Bildung. Macht. Inklusion. Blick zurück nach vorn

Artikel zum Fachtag an der EHD zur Verabschiedung von Anne-Dore Stein in der Fachzeitschrift des Berufsverbandes Heilpädagogik (BHP)

Erschienen in der Ausgabe 2023-01 der Fachzeitschrift heilpaedagogik.de

Der Fachtag „Bildung. Macht. Inklusion. Blick zurück nach vorn“ vom 2. April 2022 stand ganz im Zeichen einer theoriegeleiteten Rückbesinnung auf die Grundgedanken des Studiengangs Inclusive Education/Heilpädagogik an der Evangelischen Hochschule Darmstadt (EHD). Der Studiengang sei bundesweit einzigartig und ein „Leuchtturm der Inklusion“, so Georg Feuser, der als langjähriger Weggefährte des Studiengangs einen der Hauptvorträge übernommen hatte.

Anlass des Fachtags war die Verabschiedung von Frau Professorin Dr. Anne-Dore Stein in den Ruhestand. Stein hatte den Studiengang mit ins Leben gerufen und über zwanzig Jahre maßgeblich geprägt. Ihr Kollegium hatte den Fachtag organisiert, nationale und internationale Weggefährten wie Georg Feuser und Kai Hentonnen sowie aktuelle VertreterInnen der bundesdeutschen Heilpädagogischen Bewegung (Sabine Schäper und Albrecht Rohrmann) und ehemalige Studierende waren eingeladen.

Entstehung des Studiengangs Integrative Heilpädagogik (IHP) an der Evangelischen (Fach-)Hochschule Darmstadt

Die Entscheidungen der einstigen Evangelischen Fachhochschule (EFH) Darmstadt, einen eigenständigen, aber keinesfalls „klassischen“ Studiengang Heilpädagogik zu konzipieren, veranlasste die frühere Präsidentin Prof. Dr. Köhler-Offierski Anfang des neuen Jahrtausends dazu, eine ausdrücklich auf Integration zugeschnittene Professur auszuschreiben. Die Berufung der langjährig als Behindertenpädagogin tätigen Anne-Dore Stein kann im Rückblick als Glücksfall für die Hochschule und die Bewegung zur Umsetzung der Forderungen der Behindertenbewegung der Bundesrepublik Deutschland gewertet werden. Die im beginnenden Fachdiskurs um Inklusion stets kämpferisch auftretende Jungprofessorin entwickelte gemeinsam mit ungarischen und finnischen KollegInnen einen dem damals gerade erst eingeführten
Bologna-Prozess entsprechenden internationalen Bachelor- und Masterstudiengang. Dieser sollte sich – trotz vieler Widerstände und etliche Jahre vor Verabschiedung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) – von Anfang an konsequent der Inklusion verschreiben und dem Dilemma der Begrifflichkeiten mit dem Doppelnamen Integrative Heilpädagogik/ Inclusive Education begegnen. „Die Absurdität von Aussonderung und Segregation“, so Prof. Dr. Willehad Lanwer, aktueller Präsident der Hochschule (zum Zeitpunkt des Fachtages), „wurden von Beginn an in den Blick genommen, und als Abkehr von Bildung und menschlicher Vernunft gedeutet.“ Stein, die nach vielen von ihr dort angestoßenen Diskussionen zur Transformationsnotwendigkeit der Heilpädagogik im Hinblick auf Inklusion in den Vorstand des Fachbereichstags Heilpädagogik1 gewählt
wurde und diesem über viele Jahre vorstand, ließ sich durch Kritik an der Ausrichtung des neuen Studiengangs wenig beeindrucken. An der EH Darmstadt entstand ein Studiengang, der jungen Menschen die Gelegenheit bot, sich im Widerspruch mit einer gesellschaftlichen und auch heilpädagogischen aussondernden Praxis mit Integration und Inklusion auseinanderzusetzen. Wie sich im Verlauf der jetzt 20 Jahre seines Bestehens gezeigt hat, hat diese Auseinandersetzung Studierende dazu befähigt, in unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereichen im Sinne der Gestaltung von Strukturen tätig zu werden, die Aussonderung verhindern und Inklusion ermöglichen. Hochschulbildung versteht sich in diesem Kontext als kritisch-fragende Auseinandersetzung mit Inklusion als Utopie im Sinne eines „U-Topos“, eines (Noch)-Nicht- Ortes als sehr wohl konkret und handlungsbezogen anzustrebendem Ziel, wie Stein es bezeichnet, und damit als Beitrag zu einer „radikalen Aufklärung“.

Integration/Inklusion und die Kernidee radikaler Aufklärung durch BildungWie aktuell die Idee einer radikalen Aufklärung noch immer ist, zeigen die seit Wochen anhaltenden kriegerischen Auseinandersetzungen in der Ukraine. Willehad Lanwer bezieht sich in seiner Einleitung zur Tagung auf Adornos Dialektik der Aufklärung und verweist darauf, dass die Rationalität einer aufgeklärten Persönlichkeit stets im Rahmen bestehender gesellschaftlicher Verhältnisse entsteht und wirksam wird. In diesem Sinne sei Adornos Aussage zu verstehen, dass „jeder stets nur ist, was er ist, indem er zu dem wird, was er nicht ist“ (Horkheimer/Adorno 1988: 21). Der massive Einfluss sowie der Wandel gesellschaftlicher Verhältnisse bewirken die Notwendigkeit des sich fortsetzenden, aufklärerischen
Denkens. Bildung wird so zum entscheidenden Mittel, um immanente Widersprüche der Gesellschaft aufgreifen und verwandeln zu können. Bildung ist notwendig, um mit er Gegenwärtigkeit unseres gesellschaftlichen Daseins umgehen zu können. „Radikal aufklärerische Bildung ist
demnach Revolution des Bewusstseins“, so Lanwer.

Kritik an der Heil- und Sonderpädagogischen Wissenschaft und Praxis

Bildung, so greift Georg Feuser die einführenden Gedanken Lanwers auf, sei stets Bildung im Sinne von Bildungsgerechtigkeit
für alle. Inklusion als Gesellschaftsprojekt stoße aktuell auf rechtlich abgesicherte gesellschaftliche Strukturen, die in ihrem Kern antidemokratisch und inhuman seien. Die aktuell beobachtbare technokratische Vorgehensweise zur Implementierung und praktischen Gestaltung menschenrechtsbasierter Praxis führe zum „Inklusionismus“ (Feuser 2018). Gemeint ist damit das technokratische Vorgehen, das letztlich zur Integration der Inklusion in die Segregation führe. Weiterhin merkte Feuser an, der Prozess erfolge ohne eine nennenswerte kritische Reflexion durch die Fachwissenschaft, die sich als „weitgehend theorielos“ präsentiere.

Die massive Kritik Feusers gründet auf dessen Überzeugung, dass Fragen der Bildungsgerechtigkeit stets mit einer Kritik an gesellschaftlichen Machtverhältnissen, die sich in gewaltförmigen sozialen Praktiken konkretisieren, einhergeht. Mit Verweis auf Walter Benjamin (2015) lässt sich aufzeigen, dass Bildungsziele und -inhalte mit Ideen und Perspektiven gesellschaftlicher Normalität verknüpft sind, was auf der Ebene pädagogischen Handelns zu verordneten normalisierten Lernprozessen führt. Auf diesem Wege bleiben Praktiken des gesellschaftlichen
Ausschlusses feste Bestandteile jeder institutionellen Bildung, die zwischen integrierbaren/inkludierbaren und nichtintegrierbaren/ nichtinkludierbaren Kindern, Jugendlichen, Erwachsenen und alten Menschen unterscheidet.

Prof. Dr. Annedore Stein


Bildung und Allgemeine Pädagogik

Das bundesdeutsche System institutionalisierter Bildung hat nach wie vor kein geklärtes Verhältnis zur Differenz menschlichen Daseins und menschlicher Entwicklung. Inklusion in der heute verwirklichten Weise korrumpiere sich deshalb selbst, so Feuser. Die als „romantisch“
abgewerteten, umfassenden Ideen von Bildung und Erziehung „allen alles zu lehren“ (Comenius) und der „Allunterweisung“ (Ratke) verwiesen darauf, dass Vernunft eben nicht auf Rationalität basiere. Bildung stelle vielmehr einen Prozess dar, der stets von der einzelnen Person und deren Eigentätigkeit des Denkens und Lernens ausgehe. Die an Fächer gebundenen Lern- und Bildungsinhalte gingen dagegen nicht von der Eigentätigkeit und Selbstorganisation der Person aus, sondern binden die Educandi im besten Fall als zu aktivierende Subjekte in den institutionalisierten Bildungsprozess ein und entsprächen damit nicht den Anforderungen einer Allgemeinen Bildung im Sinne Klafkis.
Der Leitsatz des Studiengangs, „Inklusion fängt in den Köpfen an“, habe weiterhin seine Gültigkeit. Die Revolution des Bewusstseins führe zur Einsicht, dass das alte System institutionalisierter Bildung abgerissen und durch einen Neubau ersetzt werden muss.

Fragen und Feststellungen zur Gestaltung einer inklusiven bundesdeutschen Gesellschaft

Aus empirischer Sicht sind die Analysen zu aktuellen inklusiven gesellschaftlichen Strukturen in der BRD tatsächlich ernüchternd, so Albrecht Rohrmann. Mehr als zehn Jahre nach Ratifizierung der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN-BRK) ist der Anteil
von Kindern mit sonderpädagogischem Hilfebedarf in Regelschulen angestiegen. Nach wie vor nimmt aber auch die Anzahl der FörderschülerInnen kontinuierlich zu. Ähnliche Entwicklungen finden sich im Handlungsfeld der sozialen Teilhabe, und im Bereich der Teilhabe
an Arbeit bestehen nach wie vor kaum Alternativen zur Werkstatt für behinderte Menschen (WfBM). Rohrmann sieht in den Daten eindeutige Hinweise, dass neue Pfadentwicklungen bestehende Strukturen weiterhin befördern, reproduzieren und stabilisieren. Von einem Paradigmenwechsel könne derzeit nicht gesprochen werden. Stattdessen entstünden überall da, wo in bestehenden Strukturen Hilfen personenzentriert erbracht werden (z. B. in Form von SchulbegleiterInnen), moderne „Aussonderungsblasen“. Statt wirksame und gleiche
Teilhabe zu generieren, produziere das System Heil- und Sonderpädagogik so neue Formen der Segregation und betreibe damit einen „Etikettenschwindel“.

Missachtungsdynamiken ausschließender Praxis

All jene Kolleginnen und Kollegen, die in den Handlungsfeldern der Heilpädagogik tätig sind, seien derzeit damit konfrontiert, selbst Teil der widersprüchlichen gesellschaftlichen Verhältnisse zu werden, so Sabine Schäper. Das berufliche Selbstverständnis wird durch die bestehenden Missachtungsdynamiken erheblich irritiert. Zuletzt wurde das in der Phase der Covid-19-Pandemie sichtbar, als Mitarbeitende der sogenannten Behindertenhilfe die sozialstaatlich vorgenommene Etikettierung von Menschen mit Behinderung als Mitglieder einer vulnerablen Risikogruppe zu übernehmen und deren persönliche Freiheit massiv einzuschränken hatten. Es gehe dabei weniger um die Grundrechte der NutzerInnen von Eingliederungshilfeleistungen als vielmehr um die Risikoabsicherung der im Feld tätigen Organisationen, so Schäper. Die staatlich verordneten Ausschlussverschärfungen bewirken bei Mitarbeitenden der Behindertenhilfe seit geraumer Zeit auf der persönlichen Ebene Erfahrungen
„moralischer Verletzungen“ (moral injury). Frustration mache sich breit, Mitarbeitende wenden sich vermehrt von sozialen Berufen ab, junge Menschen in der Berufsfindungsphase entscheiden sich gegen eine Ausbildung im Feld. Auf der Mesosystemebene führen die bekannten
gesundheitspolitischen Vorgaben zu erheblichen Prozessen der Deprofessionalisierung. Schäper beklagt die inzwischen weit verbreitete Haltung in der Gesellschaft, dass heilpädagogische Kompetenzen nicht beziehungsweise nicht im bestehenden Maß vonnöten seien. Diese Sicht werde berufspolitisch beispielhaft dort sichtbar, wo private Anbieter Studiengänge entwickeln, die dem fachlichen Mindestqualitätsrahmen der Heilpädagogik nicht Stand halten. Dennoch werden solche Studiengänge akkreditiert und erfreuen sich – auch aufgrund großzügiger Anerkennungspraktiken – großer Nachfrage, während bestehende Studienstandorte zunehmend Schwierigkeiten bekommen, eine ausreichende Anzahl von StudienanfängerInnen zu gewinnen.

Ausblick auf eine menschenrechtsbasierte Heilpädagogik

Die ernüchternde Analyse des inklusiven Rauschens im Blätterwald aktueller gesellschaftlicher Verhältnisse führt vor Augen, dass die universelle Idee von Inklusion weiterhin eine Utopie im Sinne eines (Noch-)Nicht-Ortes darstellt, für deren Verwirklichung nicht nur fachwissenschaftlich, sondern auch sozialpolitisch gerungen werden muss. Einblicke in ihr konkretes berufliches Ringen gaben am Ende des Fachtags eine Vielzahl ehemaliger Studierender der EHD. Der anhaltend-widerständige, prozesshafte Charakter von Inklusion, den Anne-Dore Stein auch im Rahmen der Diskussion erneut betonte, wurde hier wohl am deutlichsten sichtbar. Die Veranstaltung an der Evangelischen Hochschule Darmstadt ließ aber auch erkennen, dass die Auseinandersetzung mit dem Gegenstand inklusiver Erziehung und Bildung in Wissenschaft und Lehre im Sinne der GründerInnen fortgeführt werden wird. Man darf hoffen, dass sich noch viele Generationen interessierter Studierender auf den anspruchsvollen Weg zu einer Aufklärung im Sinne der Orientierung an Ethik und Menschenrechten, Anerkennung von Differenz, Identifizierung von Ausgrenzungsmechanismen und -strukturen, Internationalität und (partizipativer) Forschung machen und so als Studierende lernen, „das Selbstverständliche zu bezweifeln“ (Heydorn 1972), und eine „Erziehung zur Mündigkeit“ (Adorno 1971) erfahren können.

Für die Studiengänge Bachelor und Master Inclusive Education/ Heilpädagogik an der EHD Prof. Dr. Peter Groß

Der Fachbereichstag Heilpädagogik ist ein freiwilliger Zusammenschluss von Hochschulen in Deutschland, die über heilpädagogische Fachbereiche oder Bachelor- und/oder Masterstudiengänge verfügen.

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