„Wie erkläre ich meinem Kind den Grund für meine Haft?“

Susanne Gerner, Professorin am Fachbereich Soziale Arbeit, forscht über Vaterschaft im Strafvollzug

Die Aussicht, eingesperrt zu sein, fern der eigenen Tochter, schien unerträglich. „Was denkt meine Kleine von mir?“ Ein Gefühl, das den Kopf „explodieren“ ließ. So beschreibt ein Vater Scham und Schuldgefühle und den Grund, warum er sich zunächst der U-Haft entzog. Wie gehen Männer im Gefängnis mit ihrem Vatersein um, was bedeutet es für sie, Kinder zu haben, welche Konflikte oder Chancen sind damit verbunden. Fragen, denen EHD-Prof. Susanne Gerner und Prof. Anke Neuber von der Hochschule Hannover in einem gemeinsamen Forschungsprojekt nachgehen. 

Während Mütter in Haft und Kinder von Inhaftierten bereits Aufmerksamkeit erfahren, „ist Vaterschaft im Strafvollzug ein weitgehend unerforschtes Thema“, sagt Prof. Gerner. Und das, obwohl 96 Prozent der Inhaftierten in Deutschland Männer sind. Offiziellen Zahlen, wieviel davon soziale oder leibliche Väter sind, gibt es allerdings nicht. Fachleute gehen aber davon aus, dass bundesweit rund 100 000 Kinder jedes Jahr betroffen sind, wenn ein Elternteil ins Gefängnis muss. 

Neuber ist Soziologin, Gerner auf Theorie und Methodik in der Sozialen Arbeit fokussiert. Seit zwanzig Jahren forschen sie gemeinsam, das aktuelle Projekt läuft seit 2022. Interviewt haben sie dafür 18 Inhaftierte in drei Justizvollzugsanstalten in zwei Bundesländen, darunter viele, die mit langer oder gar lebenslanger Freiheitsstrafe. Sie alle haben kleine Kinder oder Teenager, manche sogar Enkel. Schwierigkeiten, Interviewpartner zu finden, gab es nicht. „Die meisten waren froh, dass jemand von außen kommt, sich für sie interessiert und zuhört“, berichtet Gerner. 

Zumeist waren es Väter von kleinen Kindern oder Jugendlichen. „Weil jedes Alter unterschiedliche Erfahrungen und Herausforderungen birgt“, hatten die Forscherinnen die Anfrage bewusst offen angelegt. Nicht abgefragt haben sie auch den Grund der Haftstrafe. „Die Vaterschaft sollte im Vordergrund stehen“, so Neuber. Die meisten berichteten jedoch von sich aus, ob sie wegen Betrugs- oder Gewaltdelikten einsitzen. Täter- und Vaterschaft sind ein wichtiges Thema. „Wie erkläre ich meinem Kind den Grund für meine Haft?“ Eine mit viel Scham und Stigma besetzte Frage. Schließlich macht es auch einen Unterschied, ob Väter fünf Jahre in Haft sind oder lebenslang.

Insgesamt, so die Forscherinnen, wird Vaterschaft im Strafvollzug als „doppelte Bewährungssituation“ empfunden. Wie komme ich durch die Haft und wie kann ich den sozialen Erwartungen als Vater entsprechen? Die Inhaftierung wird durchgängig als „schmerz- und krisenhafte Erfahrung“ beschrieben, die mit Gefühlen der Ohnmacht und Hilflosigkeit einhergeht. Leben im Gefängnis, Vaterschaft und damit verbundene gesellschaftliche Normen sind für viele Interviewte schwer vereinbar. Telefonate und Besuche der Kinder schildern sie teilweise als anstrengend, weil sie im Alltag ihre Emotionen blockieren, um die Haft zu überstehen, im Kontakt mit den Kindern aber wieder Gefühle zulassen müssen. Gedanken an sie werden oft als zermürbend und übermächtig skizziert. Gleichzeitig gibt es eine große Distanz, weil man den Nachwuchs nicht aufwachsen sieht. 

Die meisten telefonieren, schreiben Briefe an ihre Töchter und Söhne. Seit der Pandemie sind Videoanrufe häufiger. In der Regel sind zwei Stunden Kinderbesuch im Monat erlaubt. „Familienorientierung hat im Strafvollzug Einzug gehalten“, berichtet Neuber. Wobei der Wunsch nach gelebter Elternschaft immer im Spannungsfeld mit der Sicherheit stehe. Es gebe jedoch viele Bemühungen wie Vater-Kind-Veranstaltungen, Familiennachmittage oder kindgerecht Besuchsräume. „Da hat eine Sensibilisierung stattgefunden“, sagt Gerner.

Kinder und Familie, haben Studien ergeben, erhöhen die Chance auf gesellschaftliche Reintegration und senken die Rückfallquote. „Ich will unbedingt raus zu meinem Kind. Ich werde mir hier nichts zuschulden kommen lassen“, so ein Vater. Gleichzeitig gelten Kinder von Inhaftierten als Risikogruppe, die häufig mit Verhaltensauffälligkeiten kämpfen. Fachleute fordern für Angehörige mehr Hilfs- und Beratungsangebote und auch Kontaktmöglichkeiten zum inhaftierten Elternteil.      

Nicht alle Väter wollen jedoch Besuch. Sie wollen nicht, dass ihre Kinder erfahren, dass sie in Haft sitzen. In manchen Familien ist der Vater seit Jahren auf Montage. Bei Ausgängen werden begleitende Strafvollzugsbeamte als Arbeitskollegen vorgestellt. Kinder und Familie, berichten Interviewte, bedeuten „Schwäche und Verletzlichkeit, die im Gefängnis nicht sichtbar werden darf“. Sie ziehen eine bewusste Grenze zwischen Privatsphäre und Gefängnisumgebung, weil sie die Familie und sich schützen wollen.

Bis Ende 2025 werten die Professorinnen die Interviews aus, analysieren und interpretieren. „Wir schauen hinter die Aussagen“, so Gerner. Sie wollen die Perspektive inhaftierter Väter aufzeigen ohne jedoch eine Art Handlungsempfehlung abzugeben. Das Interesse an ihrem Projekt ist bundesweit und auch bei den Haftanstalten selbst bereits groß. (Astrid Ludwig)