Ringvorlesung „Teilhabe gestalten. International denken, kommunal handeln"
Rückblick auf den Vortrag am 22. Mai 2025
Zum Stand der Umsetzung des Aktionsplans in der Wissenschaftsstadt
Bürgermeisterin Akdeniz veranschaulichte am 22. Mai 2025 im Rahmen der Ringvorlesung des Studiengangs Inclusive Education/Heilpädagogik an der EH Darmstadt die vier sozialpolitischen Leitlinien der Wissenschaftsstadt:
- Prävention -frühzeitig und ausreichend
- Sozialraumorientierung – vor Ort
- Partizipation – mit allen
- Inklusion – für alle bedarfsgerecht
Akdeniz betonte, dass die aktuelle Situation auch vor dem Hintergrund der Geschehnisse in den USA einzuordnen sei. Seit geraumer Zeit sucht die Administration Trump sogenannte „Diversity, Equity, and Inclusion“, kurz DEI-Maßnahmen abzuschaffen. Das habe auch Auswirkungen auf international agierende Konzerne in der Bundesrepublik Deutschland, wie man das bei SAP gesehen habe. Das Motto „Wir brauchen keine Leuchttürme, sondern müssen in die Fläche kommen“ sei nach wie vor leitend. Das Bestreben, innovative inklusive Wege zu beschreiten, sehe sich aber auch auf kommunaler Ebene mit einer größer werdenden Anzahl von Inklusionsskeptiker*innen konfrontiert. Die konkrete Arbeit zur Umsetzung des Aktionsplans richte sich an zwei spezifische Personenkreise und den daraus resultierenden Handlungsfeldern aus. Zum einen Bürger*innen in Darmstadt mit wesentlichen Teilhabebeeinträchtigungen, für die verschiedenen Formen der Eingliederungshilfe organisiert und finanziert werden. Zum anderen auf die Bürger*innen die aus verschiedensten Gründen als schwerbehindert gelten (Schwerbehindertenausweis mit einem Grad der Behinderung von mindestens 50%) und insbesondere einen barrierearmen oder gar -freien Sozialraum benötigen.
Handlungsfeld 1: Eingliederungshilfen
Die Eingliederungshilfen für Bürger*innen mit einer wesentlichen Teilhabebeeinträchtigung (SGB IX Teil II) unterteilt die Wissenschaftsstadt in die Bereiche Teilhabe an Bildung, Teilhabe am Arbeitsleben und in den Bereich Teilhabe am sozialen Leben.
Teilhabe an Vorschulischer Bildung
„Alle Kinder von 0 bis 10 Jahren werden in den Darmstädter Kindertagesstätten und in der Kinderpflege inklusiv betreut“, so Akdeniz. Bei Neubauten werden neue Standards der Barrierefreiheit berücksichtigt, die Darmstädter Qualitätsstandards garantieren zudem eine qualitätvolle Betreuung in den Einrichtungen. Der Fachkräftemangel wird derzeit als größte Herausforderung angesehen, unterschiedliche Zuständigkeiten erschweren überdies die Umsetzung von Inklusion.
Teilhabe an schulischer Bildung
Für den schulischen Bereich ist nicht die Stadtverwaltung zuständig, sondern das Hessische Kultusministerium. In den vergangenen Jahren ist ein Anstieg im Bereich der Eingliederungshilfe zu verzeichnen, im Jahr 2022 um 7%, im Jahr 2023 um 12,8% und im Jahr 2024 um 8,2%. Unklar ist, wie es zu den Steigerungen gekommen ist. Teilhabeassistenzen werden in den Schulen eingesetzt, insbesondere im Förderschwerpunkt geistige Entwicklung werden Schulassistenten benötigt. Akdeniz beklagt ausdrücklich, dass das Schulsystem nicht für eine inklusive Beschulung ausgerichtet ist. Die Schulen seien meist sanierungsbedürftig und baulich nicht barrierefrei, es bestehe ein Fachkräftemangel im Bereich der Schulassistent*innen. Der gesamte Sektor wird von den Verantwortlichen der Wissenschaftsstadt als unflexibles System erlebt.
Außerschulische Kinder- und Jugendarbeit
80% der Freizeitangebote seien bereits inklusiv und barrierefrei und die Darmstädter Kinder- und Jugendhäuser schon heute für alle Kinder und Jugendliche offen. Weiterhin gehe es weiter darum, Barrieren ausfindig zu machen (z.B. durch das partizipative Projekt „Barriere-Checker*innen“) und zu beseitigen.
Keine Aussagen machte die Bürgermeisterin zur Teilhabe an beruflicher Bildung, die in der Regel im Rahmen des duales Ausbildungssystems (Betrieb und Berufsschule) oder durch Hochschulen und Universitäten erfolgt. Hier werden wir demnächst bei Herrn Cuntz, von den Darmstädter Eigenbetrieben nachfragen (sein Vortrag findet am Donnerstag, den 26. Juni 2025 an der EHD statt).
Teilhabe am Arbeitsleben
Akdeniz spricht sich für die Abschaffung von Werkstätten für Menschen mit Behinderung aus. „Der inklusive Arbeitsmarkt ist erreicht, wenn Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen, Fähigkeiten und Bedürfnissen die gleichen Chancen auf eine auskömmliche Beschäftigung haben“, so die Bürgermeisterin. Gleichzeitig räumt sie ein, dass es bislang nur sehr wenige Inklusionsbetriebe (Gleiss 66, Cafe am Waldfriedhof, Cafe Lincoln) und noch weniger inklusive Arbeitsplätze (Cafe Salve, Vinocentral) in der Wissenschaftsstadt gibt. Die Personen, die sich in diesem Bereich engagieren, kenne man namentlich. Teilhabe am Arbeitsleben wird in Darmstadt ganz überwiegend auf dem sekundären Arbeitsmarkt organisiert, zum Beispiel in den Darmstädter Eigenbetrieben.
Teilhabe am sozialen Leben
Soziale Teilhabe von Bürger*innen mit wesentlichen Behinderungen zu verwirklichen, ist aus Sicht der Stadtverwaltung ein kontinuierlicher Prozess. Neben der Wissenschaftsstadt organisiert der Landeswohlfahrtsverband (LWV) Hessen Eingliederungshilfen. Koordiniert werden Leistungen zum Beispiel durch die Ergänzende unabhängige Teilhabeberatung (EUTB), durch die Initiative „Buntes Begegnen“, das Projekt „Rückenwind – solidarische Quartiersarbeit im Darmstädter Westen“ und anderes mehr.
Handlungsfeld 2: Inklusive Sozialräume für alle Bürger*innen
Seit vielen Jahren haben Projekte wir „Inklusives Martinsviertel“ oder „soziale Stadt Kranichstein“ Veränderungen sozialer Teilhabeverhältnisse bewirkt, so Akdeniz. Als Problem wird die Projektfinanzierung benannt. Geschaffene soziale Wirklichkeiten können oft nicht verstetigt werden, da die Fördermittel eingestellt werden.
Sichtbarkeit und Beteiligung
Die Wissenschaftsstadt hat einen Inklusionsfond eingerichtet, über den Anschubfinanzierungen niedrigschwelliger Inklusionsprojekte ermöglicht werden. Zudem findet jährlich eine Parade zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen statt. Die „Barriere-Checker*innen“ machen Barrieren sichtbar und im Stadtteil Kranichstein wurde ein Inklusionsrat gegründet, der an die Gemeinwesenarbeit vor Ort eingebunden ist.
Insgesamt, so die Bürgermeisterin Akdeniz, sei schon eine ganze Menge erreicht worden. Als vor kurzem das Haushaltsdefizit von 100 Millionen Euro ausgeglichen werden mussten, sei im sozialen Sektor nicht übermäßig gespart worden. Darauf ist Akdeniz stolz.
Prof. Dr. Peter Groß