Psychoonkologie an der Evangelischen Hochschule Darmstadt
Krisen rechtzeitig erkennen
EHD-Professorin Bianca Senf thematisiert in einer Studie Suizidgedanken von Krebspatient:innen
(24.06.2024) Wie groß ist der Lebensüberdruss bei krebskranken Menschen und wie häufig erscheint ihnen Selbsttötung als ein möglicher Ausweg? Der Frage geht Bianca Senf, EHD-Professorin für Psychoonkologie, erstmals in einer breit angelegten Studie nach. Im Klinikalltag sind Suizidgedanken von Krebspatienten:innen noch immer ein Tabuthema. Und obgleich eine relevante Größe und Komplikation in der Behandlung, wird diese Gefährdung häufig unterschätzt oder negiert – so das Fazit der vorausgegangenen Pilotstudie des Forschungsteams.
Laut Senf haben internationale Untersuchungen mit rund 22 000 Krebserkrankten ein um 85 Prozent erhöhtes Suizidmortalitätsrisiko ergeben, „doch in Deutschland gibt es dazu kaum Daten“. Das will die Inhaberin der bundesweit ersten Stiftungsprofessur für Psychoonkologie an einer Hochschule, die von der Carls Stiftung ermöglicht wird, ändern. Daher steht nunmehr eine Folgestudie in Zusammenarbeit mit dem Uniklinikum Würzburg, einer onkologischen Schwerpunktpraxis in Aschaffenburg und dem Radiologischen Institut in Frankfurt an. 355 Krebspatient:innen sollen in Interviews nach ihren psychischen Belastungen befragt werden.
Senf und ihrem Team geht es darum, mögliche suizidale Krisen von Krebskranken frühzeitig zu erkennen und ihnen rechtzeitig Behandlung und Hilfe zukommen zu lassen. In ihrer Zeit als Psychoonkologin in Kliniken hat sie Suizide erlebt und sich oft die Frage gestellt, „wie wir das verhindern können“. Die Studie soll Screening-Instrumente - in Form von Fragebögen oder Schulungen - entwickeln, damit Behandelnde gefährdete Patient:innen erkennen und besser damit umgehen können. „Wir wollen die psychologische Situation der Betroffenen verbessern.“ Dafür sind belastbare Daten nötig. Befragt werden sollen nicht nur Menschen mit einer onkologischen Erkrankung auf Palliativstationen, sondern auch solche mit guten Heilungschancen. „Belastungsgrad und Schwere der Erkrankung hängen nicht zwangsläufig zusammen“, so Prof. Senf. Die Studie wird mit 250 000 Euro von den H.W. & J Hector Stiftungen unterstützt, die die wissenschaftliche Erforschung von Krebserkrankungen fördern.
Text: Astrid Ludwig
Die Stiftungsprofessur Psychoonkologie wird gestiftet von:
Pionierarbeit
An der EHD wurde bundesweit die erste Psychoonkologie-Professur an einer Hochschule eingerichtet
Die EHD hat Dr. Bianca Senf im Wintersemester 2021/22 zur Professorin für Psychoonkologie berufen. Die Stiftungsprofessur wird fünf Jahre lang von der Königsteiner Carls Stiftung unterstützt, die sich für Krebskranke und ihre Angehörigen engagiert. Von Astrid Ludwig.
Prof. Senf, was genau ist unter Psychoonkologie zu verstehen?
Die Psychoonkologie ist ein Teilgebiet der Onkologie. Dabei geht es primär um die psychologische Betreuung krebskranker Menschen und ihrer Angehörigen, die ein ebenso wesentlicher Bestandteil der Behandlung ist wie die medizinische Seite. Krebs ist eine potenziell lebensbedrohliche Erkrankung, die ein emotionales Management braucht und die Begleitung der ganzen Familie nötig macht. Eine große Herausforderung, die immer auch den möglichen Tod miteinschließt. Es ist daher wichtig, dass jemand, der außerhalb des Familiensystems steht, die Betroffenen an die Hand nimmt, sie unterstützt und auch erfasst, was es bedeutet, so krank zu werden.
Sie sind die erste Professorin für Psychoonkologie bundesweit. Warum gibt es nicht mehr Lehrstühle dieser Art?
Ich bin im Erstberuf Kinderkrankenschwester gewesen. In den 80er Jahren hat man Erwachsene, vor allem auch Kinder im Unklaren gelassen oder sie über die Schwere ihrer Erkrankung belogen. Über Krebs und Tod wurde damals nicht gesprochen. Das hat mich sehr bedrückt. Mittlerweile ist die Bedeutung der Psychoonkologie anerkannt, sie findet sich aber immer noch nicht in allen Versorgungsstrukturen in der Regelfinanzierung der Krankenkassen wieder. Das ist ein Problem. Ein Grund dafür könnte sein, dass es das Fachgebiet bisher nicht als Lehrstuhl an die Universitäten und Hochschulen geschafft hat. Ich bin also tatsächlich bundesweit die erste Professorin für Psychoonkologie. Meist ist das Fach der Psychosomatik angegliedert. Das ist aber etwas anderes als eine eigenständige Professur, die Psychoonkologie lehrt.
Ihre Stelle an der EHD bedeutet also Pionierarbeit. Wie kam es dazu?
Die Carls Stiftung und ihre Vorsitzende Ulrike Soeffing engagieren sich schon sehr lange für die psychoonkologische Versorgung von Krebspatienten. Ein solcher Lehrstuhl ist aus Sicht der Stiftung ein innovativer Schritt. Sie haben mehrere Hochschulen dafür angefragt. Viele hatten sofort Interesse, aber eine neue Professur samt Struktur zu schaffen, ist ein langer Prozess. Die meisten Hochschulen sind große Gebilde und tun sich da schwer. Die EHD war von Beginn an offen, hat das Vorhaben extrem befürwortet und auch den Fuß aufs Gas gestellt. Zwei Jahre hat es dennoch gebraucht, die Stiftungsprofessur einzurichten.
Wo ist ihre Professur an der EHD verortet?
Sie ist eingeordnet in den Bereich Gesundheit und auch in den Pflegestudiengang. Das war wichtig. In den Studiengang Pflege und Gesundheitsförderung passt die Psychoonkologie wunderbar. Ab April habe ich in Präsenz eine eigene Vorlesungsreihe, die ich auch für andere Studiengänge geöffnet habe. Gut ergänzt die Thematik beispielsweise Studiengänge wie Soziale Arbeit und Beratung. Wir wollen das Fachgebiet bekannt machen. Mit dem Fokus Psychoonkologie werde ich mich überall an der EHD einklinken.
Sie sollen lehren, forschen und auch eine Beratungsstelle an der EHD aufbauen.
Der Aufbau einer Beratungsstelle an der Hochschule ist geplant. Die Studierenden sollen gleich in die Praxis gehen können, um das Gelernte umzusetzen. Die Idee ist auch, mit Weiterbildungsinstitutionen zusammenzuarbeiten.
Wie kommen Ihre Vorlesungen an?
Die Studierenden sind hochinteressiert. Ich habe bereits mehrere Anfragen für die Betreuung von Bachelor- und Masterarbeiten. Es hat sich herumgesprochen und für die kurze Zeit, zudem unter Corona-Bedingungen, hat sich schon sehr viel getan. Ich wurde auch angefragt für Vorträge in psychotherapeutischen Ausbildungsinstituten. Das sind aus meiner Perspektive bereits erste Auswirkungen und Erfolge der neuen Professur.
Prof. Bianca Senf ist Diplom-Psychologin, Psychologische Psychotherapeutin und Psychoonkologin. Sie hat unter anderem die psychoonkologische Abteilung an der Frankfurter Uniklinik aufgebaut und geleitet und war einige Jahre für die Deutsche Krebsgesellschaft tätig. Die 62-Jährige hat ihre Karriere als Kinderkrankenschwester begonnen; eines ihrer Schwerpunktthemen ist die Arbeit mit Kindern krebskranker Eltern. Sie hat einen Ratgeber verfasst, wie man mit Kindern über Krebs spricht.
Die Carls Stiftung in Königsstein unterstützt seit über 25 Jahren Projekte im Bereich Gesundheit, Erziehung und Bildung, Wissenschaft, Kultur sowie im öffentlichen Rettungswesen. Sie unterhält eigene Vorhaben wie etwa Ferienfreizeiten für Geschwister von Kindern mit Beeinträchtigungen, fördert MINT-Experimente für Grundschüler, unterstützt die Altenhilfe oder auch Stipendiaten der Musikhochschule.
Podcast-Interview mit Prof. Dr. Bianca Senf im Rahmen der MDR-Podcastreihe "Die Challenge meines Lebens": www.mdr.de/wissen/podcast/challenge-meines-lebens/diagnose-krebs-brustkrebs-ueberleben-survivor-leben-danach-100.html