Ringvorlesung „Teilhabe gestalten. International denken, kommunal handeln"

Rückblick auf den Vortrag am 8. Mai 2025

Die Ringvorlesung an der Evangelischen Hochschule Darmstadt mit Titel „Teilhabe gestalten. International denken, kommunal handeln“ hat am Donnerstag, den 8. Mai 2025 mit einem Vortrag über zentrale Ergebnisse zur Einführung des Bundesteilhabegesetzes (SGB IX) erfolgreich begonnen. Die von der EHD und der Wissenschaftsstadt gemeinsam geplante Veranstaltung wird sich in den kommenden vier Sitzungen ausführlich mit den inklusiven Entwicklungen in Darmstadt beschäftigen. Um einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu sein, ist die Ringvorlesung als „relaxed performance“ gestaltet.

Ernüchternde Bilanz des Monitoringprozesses

Herr Dr. Engels vom Kölner Institut für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik (ISG), der maßgeblich am Monitoringprozess beteiligt war, spannte in seinem Vortrag das Spannungsfeld zwischen Intention und Wirklichkeit der Gesetzesreform auf. „Moderne Teilhabeleistungen für Bürger*innen mit Behinderung bauen aufeinander auf“, so Engels. Zugangsbarrieren in mehreren Lebensbereichen können daher zu kumulierten Belastungssituationen führen. Insbesondere im Erwachsenenalter führen Zugangsprobleme im Bereich der Erwerbsarbeit in der Folge zu prekären Wohn- und Lebensweisen als auch zur eingeschränkten sozialen Einbindung der Betroffenen in das Gemeinwesen.

Prof. Dr. Peter Groß (EHD) und Dr. Dietrich Engels (ISG) im Gespräch
Relaxed Performance in der Aula

Die wirtschaftliche Entlastung von Leistungsempfänger*innen der Eingliederungshilfe (Veränderte Heranziehung von Einkommen und Vermögen) hat durch Einführung des SGB IX zu jährlichen Kostensteigerungen von 3% bis 6 % geführt. Die im Vorfeld der Reform befürchtete starke Zunahme des Leistungsbezugs ist dagegen ausgeblieben. Durch die Trennung von Fachleistungen und existenzsichernden Leistungen konnte eine verbesserte Transparenz von Leistungen und Kosten hergestellt werden. Zudem führte die Verfahrensänderung zu finanziellen Entlastungen der Kostenträger, da ein erheblicher Kostenaufwand nun durch die Grundsicherungssysteme übernommen werden. Der gestiegene Verwaltungsaufwand wird von allen Beteiligten beklagt. Der Aufwuchs an Bürokratie wird zum Beispiel durch die neuen Verfahren der Bedarfsermittlung verursacht. Seit Einführung des BTHG haben sich die Personalkosten für Fachkräfte, die für die individuellen Planungsverfahren zuständig sind, um 218% erhöht. „Die Wirklichkeit zeigt“, so Engels, „dass eine solche Reform mit Mehrkosten einhergeht. Die Vorgabe der kostenneutralen Umstellung ist unseriös“. Das sozialpolitische Bestreben, die bisherige institutionsorientierte Leistungserbringung durch eine personenzentrierte zu ersetzen, scheint aktuell durch die Kosten- und Verwaltungsdynamiken ausgebremst zu werden.

„Und haben sich für Bürger*innen mit (wesentlicher) Behinderung durch die Gesetzesreform Teilhabeverhältnisse verbessert?“, so die Frage aus dem Auditorium. „Teils teils“, so Engels. Insbesondere das Instrument „Budget für Arbeit“ wird auch von Praktiker*innen überwiegend positiv bewertet, die schleppende Umsetzung führt allerdings dazu, dass persönliche Teilhabechancen an Erwerbsarbeit noch nicht in dem Maße verwirklicht werden wie das möglich wäre. Auch die Neuerungen bezüglich des Rechts auf persönliche Teilhabeassistenz werden im Feld noch wenig genutzt. Im Feld der Allgemeinen Schulen sieht es ganz ähnlich aus. Die Analyse bundeweiter Entwicklungen zeigt auf, dass das Recht auf Teilhabe an inklusiver Bildung in der Praxis bisher nur geringe Auswirkungen gezeitigt hat.

Trägheitsphänomene und ausufernde Bürokratisierung

Vieles spricht dafür, dass der Umsetzungsprozess aufgrund der Covid-19-Pandemie, institutioneller Trägheitsphänomene sowie dem weiter zunehmenden Personalmangel sowohl im Pflege- als auch im Betreuungs- und Assistenzbereich der Reformprozess nur schleppend vorankommt und mancherorts auch grundsätzlich infrage gestellt wird. Der mit Bedarfsermittlung, Teilhabe- und Gesamtplanung einhergehende bürokratische Mehraufwand für die Leistungserbringer schwächt den Übergang in ein menschenrechtliches System der Leistungsgewährung und -erbringung überdies. Die von Selbstvertreter- und deren Unterstützer*innen in den vergangenen Jahrzehnten leidenschaftlich erkämpfte Partizipation an bürgerlichen Grund- und Freiheitsrechten droht nun im ‚Morast‘ der institutionellen Zuständigkeiten und bürokratischen Vorgaben stecken zu bleiben. „Das darf nicht passieren“, so Groß. „Nach einer technokratischen Phase der Bürokratisierung sollte es nun darum gehen, sich gemeinsam und pragmatisch mit konkreten Teilhabemöglichkeiten für beeinträchtigte und behinderte Bürger*innen einzusetzen“. Der Professor für Inclusive Education/Heilpädagogik an der EHD wirbt für eine Teilnahme an der Ringvorlesung. Sie könnte ein Auftakt sein für eine kommunale Zusammenarbeit zwischen Hochschule, Organisationen und Akteur*innen der Stadtgesellschaft.

Ringvorlesung als Relaxed Performance 

Die Auseinandersetzung mit zu schaffenden Teilhabeverhältnissen findet auch an der EHD statt. Die Ringvorlesung ist daher in einem barrierearmen Format der „Relaxed Performance“ gestaltet. 

Mithilfe verschiedener Anpassungen versucht das Konzept, den vielfältigen Bedürfnissen von Menschen mit Neurodivergenz gerecht zu werden. Unter Neurodivergenz fallen Diagnosen wie Autismus, ADHS, psychische Erkrankungen, das Tourette-Syndrom sowie Lernschwierigkeiten und vieles mehr. 

„Die Relaxed Performance bricht mit den üblichen Regeln herkömmlicher Veranstaltungen“, so Sophia Zimmermann, Studentin des Studiengangs Inclusive Education/Heilpädagogik. Während der Ringvorlesung darf der Veranstaltungssaal jederzeit verlassen und wieder betreten werden. Es werden verschiedene Sitzmöglichkeiten angeboten, etwa Balancekissen, Gymnastikmatten und gemütliche Sessel. Für Besucher*innen, die lieber stehen wollen, finden sich Stehtische im Veranstaltungsraum. Zusätzlich kann während der Veranstaltung bei Bedarf ein Ruheraum aufgesucht werden, zum Beispiel um sich für einen kurzen Moment zurückzuziehen. Des Weiteren ist eine Online-Teilnahme möglich. 

Sophia Zimmermann hat die Raumgestaltung der Ringvorlesung übernommen und freut sich über Rückmeldungen von all jenen, die an der Veranstaltung teilnehmen und davon profitieren. Relaxed Performance bedeutet Kultur und somit auch Bildung, durch Abbau der Barrieren, zugänglicher zu machen. Davon ist Sophie Zimmermann überzeugt. 

Zu den Vortragsterminen